Die sonderbare Stille in der Unruhe

Shownotes

Der ältere, stets elegant gekleidete Herr wartete fast jeden Morgen gegen acht Uhr auf den Bus, und Isolde wartete mit ihm. Sie warteten nicht zusammen, aber doch gemeinsam. Sie stand in seiner Nähe, und er schien es nicht einmal zu bemerken. Mit konsequenter Regelmäßigkeit schaute er nach ein paar Augenblicken immer nervös auf seine Uhr, in wenigen Minuten würde der Bus kommen. Sie wollte immer nur so lang warten, bis er eingestiegen und abgefahren war, um dann, wenn er noch einmal aus dem Fenster zu ihr schauen sollte, so zu tun, als warte sie auf einen anderen Bus. Aber er sah nie aus dem Fenster.
Der Mann blickte nur starr ins Leere, so als erwarte er etwas, das unerträglich sein musste, aber zwangsläufig eintreffen würde. Vielleicht neue Diagnosen oder Therapien einer schwerwiegenden Erkrankung? Sie ahnte das, sie ahnte es so sehr, dass es beinahe die Qualität einer Gewissheit hatte und doch ungewiss war wie jede bloße Vermutung. Seinen Kopf wandte er ihr nie zu. Bemerkte er sie überhaupt? Hatte er sie jemals irgendwie wahrgenommen? Dass er Edgar hieß, hatte sie einmal mitbekommen, als er sich mit einem Freund auf der Straße unterhalten hatte und sie wie zufällig an ihm vorbeigeschlendert war. Edgar, das klang nordeuropäisch, souverän und irgendwie herrschaftlich und selbstbewusst. Er mochte um die siebzig sein, damit wenige Jahre jünger als sie selbst.
Sie hatte ihn bereits vor ein paar Jahren das erste Mal am Elisabethmarkt gesehen, aber nie angesprochen. Er hatte ihr ein freundliches Lächeln geschenkt. Es hatte sie für ihn eingenommen, ein bisschen sogar verzaubert. Zumindest hatte es ein Gefühl von einem gewissen Schwung und vibrierender Lebenszärtlichkeit hinterlassen. Zuerst war ihr sein Gang aufgefallen, die ausladenden Bewegungen, mit denen er sich von Stand zu Stand bewegte, meistens freundlich abwinkte, wenn er von einem der Händler etwas gefragt wurde, dann war es die ebenmäßige, erhabene Kontur seines Gesichts und schließlich, dass eine Zeitung auffällig halb in seiner Manteltasche steckte. Das war altmodisch. Er schien aus der Zeit gefallen zu sein. Er erinnerte sie an jemanden...

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